Becherflechte (Cladonia pyxidata)
Sie zählen zu den ältesten Geschöpfen unserer Zeit, sofern unser eigener Ermessensspielraum auch nur vage erahnen kann, ob Zeit über unsere Wahrnehmungsfähigkeit hinaus überhaupt existiert. Still, starr und beweglich erscheinen sie uns, die Flechten, die Doppelwesen, die symbiotischen Verquickungen aus Algen und Schlauchpilzen. Die Flechtenpilze kommen allein in der Natur kaum vor, da sie sich gegenseitig bedingen. Die Pilze leben von den Kohlenhydraten, die die Algen produzieren und die Algen schützen die Pilze vor Trockenheit und Hitze. So können sie selbst extreme Lebensstätten besiedeln.
Die häufig vorkommende Becherflechte selbst erscheint wohl als die markanteste Vertreterin ihrer Art. Doch wird sie schnell und leicht übersehen. Ihre Wuchshöhe geht über 1,5 cm kaum hinaus und ihre Farberscheinungen hängen immer vom jeweiligen Standort ab. Die sich deutlich verjüngenden Potedien entwickeln am Becherrand braune bis deutlich rote Apothecien und bieten wunderbare Motive, wenn man sich diesen Wesen nähert. Erst aus unmittelbarer Nähe eröffnet sich dem neugierigen Betrachter oder Fotografen eine völlig neue Welt, ein gänzlich anderes Universum, das mich still und doch sehr deutlich an fraktale Geometrie erinnert. Nahaufnahmen, ins rechte Licht gerückt, zeigen ganze, eigene Landschaftsbilder. Wie Baumstämme, die erscheinen, als wollten deren Trichterkronen den Regen auffangen und verspeisen, recken sie sich dem Licht entgegen. Dabei entzieht sich unserer noch so aufmerksamen Beobachtung vollkommen, dass die stolzen Potedien überhaupt wachsen oder sich bewegen können. Verletzlich und zerbrechlich erscheinen sie nicht nur; jede Berührung zerstört die fragile Architektur augenblicklich und zeigt uns mehr als deutlich, welchen Schaden auch nur die kleinsten unserer Eingriffe in winzigste Lebensräume verursachen können.
Wenn ich tief in das Gewirr der kleinen Wälder aus winzigen Stämmen blicke, ist mir, als tauchten jeden Moment hinter und zwischen ihnen noch kleinere Avatare auf, die nur darauf warten, ihr winziges und doch so riesiges Idyll zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen. Avatare sind Gottheiten, die in die irdischen Sphären hinabgestiegen sind und somit die Manifestation des höchsten, des göttlichen Prinzips in der Gestalt eines Menschen oder Tieres annehmen. Oft, so denke ich, ist es an der Zeit und mehr als nötig, dass wir diesen offenbarenden Erkenntnissen tatsächlich begegnen sollten, um unser alltägliches Tun und Treiben, unser Ganztags-Zombie-Dasein, endlich bewusst zu hinterfragen und diesem, heraus aus der Wahrnehmung und Erkenntnis unserer eigenen göttlichen Herkunft, ein schrittweises Ende zu setzen. Physische Größe zumindest, das zeigt mir so ein kleines Becherflechten-Wäldchen, ist von absoluter Belanglosigkeit.
Ein kleines und zugleich großes Gedicht von Janine Jabs, einer sehr naturverbundenen jungen Frau aus Eisenach, schmiegt sich ganz harmonisch an das Erscheinungsbild dieser kleinen Wesen und beschreibt auf Janine´s eigene Weise ganz wunderbar, wie groß eine Winzigkeit auch sein kann,und ist.
©Kay Weber
Nur eine Winzigkeit
Nur eine Winzigkeit entfernt vom Nichtbestehen
Strahlende Schönheit glänzend hell im Licht
Nur ein paar Stunden weit entfernt vom Untergehen
Doch Wesentlich aus einer anderen Sicht
Verschwindend kurz in unserem Zeitgeschehen
Kaum wahrnehmbar - fast gar nicht existent
In unseren Augen - spurloses Vergehen
Scheinbar bruchteilhaftes Sein - bis man erkennt -
Dass unserer Vorstellungskraft Zusammenhänge fehlen
Die nicht durch Wissenschaft erfassbar sind
Wir uns im Zweifel an Erklärungen lehnen
Die uns beruhigen sollen - wie das Kind -
Was durch Behauptungen bald fraglos wird
Obwohl wir selbst die Antwort oft nicht kennen
So wird nur seine Wahrnehmung gestört
Weil wir versuchen vor ihr wegzurennen
Nur eine Winzigkeit entfernt vom Nichtbestehen
Wenn ich auch unser Sein noch nicht verstehe
Sind wir doch alle nicht so weit entfernt vom Untergehen
So weiß ich dass ich offen - fragend gehe
Janine Jabs