Leberblümchen - Hepatica nobilis

Im tief stehenden Licht der allmählich immer höher steigenden Frühlingssonne, wenn Bäume und Sträucher noch kahl und scheinbar reglos verharren; und immer in der Nähe von den grauen und glatten Stämmen der Rotbuche, umsäumt von deren rotbraun glänzendem Laub am Boden, sticht das Leberblümchen als einer der ersten Frühblüher mit seinen blau wirkenden Blüten leuchtend heraus. Doch ist es wirklich Blau? Beim ersten Blick erscheint es so, beim näheren Betrachten wirkt es eher ins Violett gehende, ein wenig mit purpurfarbenen Pigmenten verwaschen. Allein beim intensiven Betrachten der Blüten, um sich der wirklichen Farbe zu vergewissern, empfinde ich eine leicht psychedelische Wirkung. Je länger ich schaue und betrachte, desto mehr verschwimmen die Farbaspekte und beginnen vor meinen Augen zu fluoreszieren. 

Auch die dreilappigen Laubblätter des Leberblümchens spielen offensichtlich gern mit den Farben. Anfänglich stehen sie noch in einem frischen, hellen Grün, doch färben sie sich im Laufe von wenigen Tagen von den Blatträndern her leicht purpurfarben und schnell ins Braune übergehend. Die schuppige Struktur der Blattunterseite zeigt diesen Farbkontrast noch deutlicher. Der Umriss der dreieckigen und bis zur Hälfte in drei Lappen eingeschnittenen Laubblätter wurde  in der Signaturenlehre mit dem Erscheinungsbild der menschlichen Leber verglichen, weshalb die Pflanze gegen Leberleiden eingesetzt wurde. Der Name Hépaticus entstammt dem Lateinischen und bedeutet, so wie heute in der Medizinsprache der Begriff Hepar schlicht und ergreifend Leber. 

Die Bedeutung des zweiten Ordnungsnamens nobilis (nobel, nobilior) bezieht sich auf das makellose Aussehen des Perianths, der Blütenhülle, und kann wörtlich mit makellos, vornehm, edel, vortrefflich und bisweilen auch aristokratisch verstanden werden. 

 

Der Volksmund gibt dem Leberblümchen weitere Namen wie Blaue Schlüsselblume, Hasenwurz, Herzleberkraut, Märzblümchen, Windblume, Gulden-Leberkraut, Herzfreude, Schörnachel oder Vorwitzchen. Diese Namensgebungen resultieren einerseits auf ihr frühjährliches und nach den langen dunklen Wintertagen Hoffnung bringendes Erblühen ebenso wie auf ihre regionale Verbreitung und dem daraus resultierenden Dialekt. 

Das Leberblümchen zählt zu den Hahnenfußgewächsen, die für Menschen eine leichte Giftigkeit mit sich bringen. Die selten gewordene Blume steht unter Naturschutz und man findet sie ausschließlich auf kalkhaltigen und nährstoffreichen Böden ursprünglicher Laubmischwälder, in denen Eichen, Rot- und Hainbuchen anzutreffen sind. Auf Baumarten-Wechsel reagiert sie äußerst empfindlich. Die intensive Bewirtschaftung und die damit einhergehende Bodenverdichtung, das Errichten und Einbringen monotoner Fichtenplantagen und die damit verbundene Homogenisierung unserer Wälder, haben das Leberblümchen zu einer gefährdeten Art werden lassen. Doch geht es unserer gesamten einheimischen Flora und Fauna durch dieses rein auf Wirtschaftsinteressen basierende Treiben gleichsam. Zwar wird der Klimawandel immer wieder als einzig und alleinige Ursache für den Artenverlust herangezogen, doch wenn man sich tiergehender mit den tatsächlichen Auswirkungen des seit über 400 Jahren stattfindenden Waldumbaues beschäftigt, eröffnen sich gänzlich andere Fakten, welche das derzeitige regionale Klimageschehen besser verstehen lässt. 

 

Heute muss man nicht lange suchen, um etwas über die Heilanzeigen des Leberblümchens zu finden.  Blasenleiden, Leber-Galle-Beschwerden, Milzschwellung, Nierenleiden, Müdigkeit, unverdaute Wut, Lungenbeschwerden und viele andere Leiden werden in allerlei Literatur (und natürlich im Internet) dargeboten, wobei ersichtlich wird, dass es nur geringfügige Unterschiede in den jeweils beschriebenen Wirkspektren gibt, so als würde der Eine vom Anderen abschreiben. Eines haben jedoch alle gemeinsam: vor der Giftigkeit der Pflanze wird von allen Schreiberlingen wie auf Knopfdruck gewarnt. Doch wird hier wirklich aus der Erfahrung gesprochen? Oder gibt es einen mir nicht bekannten Kodex, der kollektiv aufgenommen und automatisch wiedergekäut wird? Ich habe gelernt, kritisch zu sein, wo alle loben und neugierig dort zu sein, wovor alle warnen. Den Hinweis, dass schon der bloße Hautkontakt mit dem Leberblümchen zu Rötungen, Juckreiz und Blasenbildung führt, stimmt mit meiner Erfahrung absolut nicht überein. Immerhin muss ich jede Pflanze, die ich illustrieren möchte, nicht nur über eine gesamte Vegetationsperiode beobachten, sondern sie auch in ihren unterschiedlichen Lebensperioden berühren, ertasten, riechen und fühlen, um mich beim Zeichnen an meine dabei gemachten Empfindungen erinnern zu können (vielleicht zeichne ich auch daher nicht gerne Menschen). 

Um jedoch nicht falsch verstanden zu werden, streite ich eine gewisse Giftigkeit des Leberblümchens nicht ab. Ihre Wirkung kann im Einzelfall, wie bei allen anderen Pflanzen auch, vom Konstitutionstyp abhängig sein und wohl auch von der Art, mit welcher Gesinnung, welcher Achtung und welchem Respekt man der Pflanze gegenüber tritt. Besonders bei psychoaktiven Pflanzen sind diese Wirkspektren sehr facettenreich. All jene, die Pflanzen (und Pilze) nur deshalb konsumieren, um einen „Kick“ zu spüren, einen „Tripp“ machen oder sich „wegbeamen“ wollen, müssen sich nicht wundern, wenn sich das Pflanzenwesen dann von seiner wirklich unangenehmen Seite zeigt. Wichtig im Leben ist, was man, oder von wem man gefunden werden möchte. Wer sucht, wird ein Suchender, vielleicht auch ein Süchtiger werden und bleiben. 

 

Neben den recht einfach recherchierfähigen Fakten zum Leberblümchen möchte ich mich lieber jener Sprache bedienen, die mich Pflanzen (in meinen Augen) besser wahrnehmen lässt und Botschaften in sich trägt, die heute gern als rudimentär, mittelalterlich oder meinetwegen auch hinterwäldlerisch bezeichnet wird. Neben der üblichen Signaturenlehre, die Paracelsus anwandte und eine noch etwas offenere und leicht ablesbare Ausdrucksweise beinhaltet, hüllt sich die planetarische Signaturenlehre in einen tiefer gehenden Bereich, der weniger offenkundig ist und genauer Beobachtung bedarf. So ist die Zuordnung der Pflanze zu einem oder mehreren Planeten abhängig von ihrer Farbe, ihrem Habitus, ihrem Wirkspektrum, ihrer Vegetationsphase und -dauer sowie ihrem phytosozialem Verhalten. Ein bisschen mag diese Zuordnungs- und Betrachtungsweise philosophisch, willkürlich, interpretationsabhängig und emotional erscheinen, oder gesteuert von dem, was der Betrachter an Wissen gerade erst angesammelt hat und zuordnen kann. Dennoch hat mich diese Sprache viele Zusammenhänge verstehen gelernt, wenn es darum geht herauszufinden, was Pflanzen uns schon allein durch ihre Erscheinung zu sagen haben. 

Nun könnte ich es mir einfach machen und das Leberblümchen schon allein wegen seines Namens dem Planeten Jupiter, der für Leber, Galle, Arterien und Venen verantwortlich ist, zuordnen. Nach Paracelsus Anschauung ist das richtig, doch hat dieser in der alchemistischen Zuordnung nur sieben Planeten erwähnt. Erst mit Aleister Crowley wurden Uranus, Neptun und Pluto als transsaturnale Planeten in die Signaturenlehre mit aufgenommen. 

Doch bleiben wir zunächst bei Jupiter, dem menschenfreundlichen Herrscher, einem der hellsten Lichter am Sternenhimmel, dem Weitblick, Ehre, Verantwortung, Wohlstand, Erfolg sowie Zeus, Thor (Donar/Donnerstag, frz.: jeudi) und das Tierkreiszeichen des Schützen zugesprochen werden. In Bezug auf das Leberblümchen soll erwähnt sein, dass die Buche, deren Nähe sie scheinbar benötigt, ebenso mit Jupiter identifiziert wird. Jupiter fördert die Gestaltungskraft, das stetig Aufbauende, steht für Wachstumsprozesse und gilt als Lebenserneuerer, was im viatlen, agilen und lebensbejahenden Frühlingserwachen des Leberblümchen zu sehen ist. Viele wohltuende und unserer Gesundheit zuträgliche Pflanzen sind ihm zugeordnet, darunter jedoch nur eine Pflanze, das Bilsenkraut, die auch einen neptunischen Charakter hat und als wirklich als giftig bezeichnet werden kann. 

Viel deutlicher für mich treten jedoch die Signaturen des Saturn und des Pluto aus dem Leberblümchen hervor. Saturn, Chronos, Luzifer, Kali, der Lebensbegrenzer, der Herr der Einschränkungen und Prüfungen, der Hüter der Schwelle. Die ihm entsprechenden Pflanzen verschwenden wenig Energie in Farben, üppige Blüten und verlockende Düfte, sondern konzentrieren sich mehr auf innere Werte wie die Brennnessel, der Beifuß oder der Wermut. Das Leberblümchen scheint zwar auf den ersten Blick nicht eindeutig zuordenbar, doch die Kürze der Blühphase ist oft schon ein Indiz für einen saturnischen Charakter. Ist diese vorüber, zeigen sich die Laubblätter des Leberblümchen bis kurz vor Wintereinbruch wenig farbenfroh, grünlich grau bis bräunlich, teilweise tief gerissen, eingekerbt und welk erscheinend, was der Saturn-Analogie von Jugendfeindlichkeit, Verhärtung und Tod entspricht. Ein von Saturn auch regiertes Organ ist die Milz, welche die Qualität des Blutes und des Bindegewebes kontrolliert. Die Volksmedizin verordnet das Leberblümchen neben Leber- auch bei Milzschwellungen und die traditionelle chinesische Medizin (TCM) empfiehlt sie als kühlend bei einer Hitze und als trocknend bei einer Feuchtigkeit der Milz. 

Pluto, der äußerste Planet (auch wenn er inzwischen als Zwergplanet deklassiert wurde), der Grenzgänger, Bewacher der Finsternis und Herrscher im Reich der Schatten, der psychologisch als das Verdrängende gedeutet und dem eine verdeckte Machtausübung zugesprochen wird, tritt für mich aus dem Leberblümchen deutlich hervor. Diese Pflanze verbringt die meiste Zeit des Jahres entweder im Schatten der Wälder oder wird kurz darauf vom herabfallenden Laub der Buchen und Eichen bedeckt. Nur in ihrer kurzen Blühphase kommt sie zur Geltung, zeigt sich für kurze Zeit. Als plutonische Pflanzen werden gern beliebte Friedhofspflanzen wie Eibe, Thuja, Zypresse oder der Lebensbaum kategorisiert, aber auch alle Pflanzen, die einen düsteren Eindruck machen, sich vorwiegend im Halbdunkel aufhalten und durch eine hohe Giftigkeit auszeichnen. Diese Giftigkeit wussten Druiden und Heilkundige jedoch zu nutzen und die Gesundheit erhaltende, verjüngende und lebensverlängernde Mittel daraus herzustellen. Ist es also eine Errungenschaft, dass wir vor der Giftigkeit vieler Pflanzen gewarnt werden oder wurde uns hier viel eher etwas genommen, was wir nicht erfahren sollen? Die Alchemie, die Homöopathie, die Naturheilkunde, die Spagyrik und auch die Traditionelle Chinesische Medizin beweisen, dass sogenannte Giftpflanzen ein hohes heilendes Potential auf Körper, Seele und Geist ausüben können, wenn man weiß, mit ihnen umzugehen. Dazu genügt es nicht, die einzelnen Wirkstoffe zu lokalisieren, zu analysieren und zu extrahieren, wie es die moderne Medizin macht, sondern zunächst die Gesamtbotschaft und das zyklische (und bisweilen antizyklische) Erscheinen einer Pflanze im Abgleich mit den seelisch-geistigen Veränderungen und Anomalien in unserer Gesellschaft zu erkennen und verstehen zu lernen.

Die Botschaften sind offensichtlich. So sehr wir auch unser natürliches Umfeld verändern, kultivieren, sterilisieren und unseren modernen Bedürfnissen zu unterwerfen versuchen, sind es immer wieder Pflanzen, die sich diesen Veränderungen schnell anzupassen wissen und mit unermesslicher Vitalität und Kraft in unsere Aufmerksamkeit hineinwachsen. Die Lücken, die wir schlagen, werden immer wieder Besiedelung finden, sofern wir ein Auge dafür haben. 

 

Das empfindliche Leberblümchen ist zwar kein typischer Vertreter dieser spontan erscheinenden und kraftstrotzenden Pionier- und Ruderalpflanzen, doch steht es für mich in seiner fast ganzjährigen Verborgenheit für das Dauerhafte, das Wiederkehrende, das Tiefwurzelnde und Festverankerte. Jupiter, der Erneuerer, Saturn, der Hüter und Pluto, der Bewacher manifestieren sich im Leberblümchen ziemlich subtil. Gemeinsam jedoch symbolisieren sie für mich mittels des Leberblümchens Dauerhaftigkeit, Verankerung, Tiefgang, Treue, Ausdehnung, Bewusstsein, Selbsterkenntnis und geistige Entwicklung. 

 

©Kay Weber