Rote Bete (Beta vulgaris)

Neben all den positiven Wirkungen auf den Menschen, die wissenschaftlich nachgewiesen sind, heißt es im Volksmund, dass Schwache durch eine Mahlzeit mit der roten Rübe an Kraft gewönnen und Schüchterne plötzlich mutig würden. Tatsächlich entzieht die rote Bete in ihrem Eigensinn der Erde sehr viele Nährstoffe, vor allem jedoch Silizium. Sie bietet es in einer Kombination mit anderen Nährstoffen an, die einzigartig ist. Das Silizium aus der roten Bete kräftigt Bindegewebe und Haut, Gefäßwände und Knochen, fördert das Zellwachstum, sorgt für mehr Magensäure (zu wenig davon ist nämlich ein allgegenwärtiges Problem), aktiviert die Produktion roter Blutkörperchen und es entgiftet unser Gehirn von Metallen wie Aluminium (!!!). Das Glücksgefühle, Optimismus und Euphorie der Folsäure zu verdanken sind, die die Produktion von Adrenalin und Noradrenalin stimuliert, mag gut zu wissen sein, doch entzaubert das Zerlegen in Einzelbestandteile das Wesen einer jeden Pflanze. Je mehr wir geneigt sind, die Dinge zu zerlegen, desto weniger werden wir sie verstehen. Ob Folsäure in extrahierter und alleiniger Darreichungsform wohl genau so wirken mag? Oder sind es letztlich doch die Bildekräfte der Natur, der Erde, der kosmischen Zyklen, die uns wohl gesonnen sind?

Es gibt unzählig viel Literatur, die sich mit den Wirkspektren der einzelnen Inhaltsstoffe eines Gemüses befassen. Jugend zum Nulltarif heißt es da, Vital- und Verjüngungskur oder Wirkstoffbombe. Sicher mag das auf sämtliche Kost zutreffen, sofern sie tatsächlich auch naturbelassen ist. Das Zerlegen, katalogisieren und kategorisieren der einzelnen Inhaltsstoffe verkompliziert unsere Ernährung oft unnötig und lässt das Wunder des Entstehens gänzlich außen vor. 

 

Wer selbst im eigenen Garten Gemüse anbaut, das Beet bestellt, mulcht, aussät, pikiert, pflanzt, jätet, hackt, gießt, pflegt, beobachtet und geduldig wartet und erntet, wird sich selbst als Teil dieses Werde-Prozesses erleben und seinen Rote-Bete-Salat mit viel mehr Hingabe, Dankbarkeit und Genuss verzehren, als gekaufte eingelegte rote Bete aus dem Glas (obwohl konservierte Gemüse viel besser sind als ihr Ruf). 

Nicht immer gedeihen die Gemüse im Acker so wie der naturnahe Gärtner es sich wünscht. Die Jahreszeiten sind in ihrer Qualität nicht berechenbar, manche Lagen und Böden schwierig oder für das jeweilige Vorhaben wenig geeignet. Auch hierfür gibt es viele Regeln, Ratschläge und Hinweise. Ob wir nun nach dem Mond gärtnern, die Fruchtfolge auf Grundlage der Nährstoffbeanspruchung, der Elemente und Pflanzenorgane oder nach Pflanzenfamilien bzw. die Regeln der Permakultur beachten, unser Saatgut selbst ziehen wollen - es gibt viele Möglichkeiten zum Erfolg zu gelangen. Eines jedoch verbindet sie alle: sich Zeit nehmen, beobachten, Schlüsse ziehen, wieder beobachten und so Jahr für Jahr neu dazu lernen. Jeder Garten lenkt seinen Gärtner, der am Ende stolz auf das ist, was er geschaffen haben mag. Doch sind es eben die nicht sichtbaren, die nur schwer wahrnehmbaren Kräfte, die uns in fürsorglicher Stille an die Hand nehmen und führen. 

 

Tom Robbins, ein US-amerikanischer Schriftsteller, beginnt in seinem Roman „Jitterbug Perfume“ mit folgenden Worten: „Bei unserer Geburt sind wir rotbäckig, rund, intensiv, rein. Das rote Feuer des universellen Bewusstseins brennt hell in uns. Allmählich jedoch werden wir von unseren Eltern verspeist, von Schulen geschluckt, von Freunden zerkaut, von gesellschaftlichen Institutionen aufgefressen, von schlechten Angewohnheiten verschlungen und vom Alter angenagt; und wenn wir (…) sorgfältig verdaut sind, bleibt uns nichts weiter als ein einziger abscheulicher Braunton. Die Lektion, die uns die Rote Bete lehrt, ist also diese: Haltet fest an eurem göttlichen Erröten, an dem euch innewohnenden rosigen Zauber, andernfalls werdet ihr braun. Wenn ihr erst mal braun seid, werdet ihr feststellen, dass ihr eigentlich blau seid. So blau wie das Meer. Und ihr wisst, was das heißt: Meer. Weniger. Nichts.“

 

Wenn ich sage, dass die Rote Bete Blut bildet, werde ich gern belächelt, weil der rote Farbstoff den Körper so wieder verlässt, wie er in ihn gelangt ist. Ähnliche Behauptungen finden sich bei den Griechen und Römern, bei Dioskurides, Galen oder Plinius. Mittlerweile wird Rote-Bete-Saft tatsächlich als Begleittherapie bei vielen, auch gezielt bei ernsthaften Erkrankungen eingesetzt. Auch der volksmedizinische Rat an werdende Mütter, viel rote Bete zu essen, ist nicht abwegig. Auf jeden Fall sollte man die Rote Bete der Supplementierung mit Folsäure bevorzugen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass die Herkunft der Roten Bete biologisch unbedenklich sein sollte, ohne Nitratdüngung und aus voller Sonnenlage. In meinem Garten wuchs die Rote Bete beispielsweise in voller Sonnenlage und so gediehen prachtvolle Knollen zu erstaunlicher Größe heran. Der erdige Geschmack, vom Silizium herrührend, stört mich dabei keineswegs. Oft fühle ich mich nach dem Genuss wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geführt. Eine überbordende Astralität findet mit Roter Bete wieder zu mehr Erdverbundenheit, sagt man. 

 

In der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wird die Rote Bete zunächst dem Erd-Element, also dem Milz-Magen-Prinzip zugeordnet, welches sich im Geschmack süß und einer neutralen Temperatur äußert. Alle roten Nahrungsmittel werden in der TCM der Blutbildung zugeordnet. Aus Sicht der TCM nährt die Rote Bete das Blut und das YIN, wirkt absenkend und ausleitend, sowie überschüssige Feuchtigkeit auflösend und abführend. Ein bitteres Wirkprinzip wohnt ihr auch inne, was dem Herz-Dünndarm-Prinzip entspricht. Denn ein Blut-YIN-Mangel hat immer ein aufsteigendes Leber-YANG zur Folge, was zu einer das Herz belastenden Hypertonie führen kann. Die dann im Herzen geringer werdende Energie wird durch den Dünndarm kompensiert (Herz-Dünndarm). Solche Systeme werden in der modernen Medizin gern ignoriert und es wird der Darm behandelt. Das ursächliche Milz-Magen-Prinzip bleibt unerkannt. Auch erinnere ich mich an die Regel, dass die Leber die Blutgefäße und die Milz die Qualität des Blutes kontrollieren, wobei die Rote Bete immer als eines der Schlüsselgemüse genannt wurde. Im indischen Ayurveda sowie in der traditionellen europäischen Volksmedizin hat die rote Bete ebenfalls  einen sehr guten Ruf als blutbildendes Mittel. Prinzipiell liegen die europäische Volksmedizin, das Ayurveda und die TCM in Ernährungs- und medizinischen Fragen nicht weit auseinander. Sie unterscheiden sich nur in ihrer Art der Aufteilung, die auf die unterschiedlichen klimatischen, heliochronologischen, vegetativen und kulturellen Unterschiede zurückzuführen sind. Die Naturbeobachtungen und Rückschlüsse als solche selbst sind überraschend identisch. 

 

Planetarisch wird die Rote Bete mal dem Mars (aufgrund der roten Farbe), mal dem Saturn (als Sinnbild für dessen mineralische Natur) zugeordnet. Gierig saugt sie Calcium, Magnesium, Eisen, Kupfer, Schwefel, Jod, Bor, Lithium, Strontium, Chlor, Rubidium und Caesium in sich auf. Dafür verschenkt sie wenig Energie an ihr Blütenwachstum, das als winzig, unscheinbar, farb- und geruchlos beschrieben werden kann, was eine deutlich saturnische Sprache spricht (siehe Beifuß oder Salomonsiegel). 

Saturn wird gern nachgesagt, unjugendlich bis jugendfeindlich, machtgierig und herrschsüchtig zu sein. Dies lässt sich bei der Roten Bete als „Verjüngungs-Gemüse“ nicht behaupten. Auch ihr Verhalten im Gemüsebeet lässt nicht darauf schließen, dass sie die Macht ergreifen und ihr Umfeld beherrschen wolle, pflegt sie doch eine durchaus gutmütige Pflanzensoziologie. Dem saturnischen Charakter genügt scheinbar die rein mineralische Prägung. 

Eine prägsam deutliche Mars-Analogie kann ich, außer in ihrem blutroten Saft, nicht erkennen. Weder im Habitus der Pflanze selbst noch in ihrem phytosozialem Verhalten.In Hinblick auf die leberfreundliche Gesinnung der Roten Bete und ihrer Wirkung, dass Bindegewebe zu stärken, findet sich auch Jupiter. Gegenüber ihm ist Saturn eher freundlich gestimmt, mit Mars kommt er nicht ganz so gut aus. Vielleicht sind es genau diese Kräfteverhältnisse, die es der Roten Bete ermöglichen, genau so perfekt zu erscheinen, wie sie ist. 

 

Nun gibt es noch eine Unmenge an verführerischen Zubereitungsmöglichkeiten, in die ich mich als altgedienter Koch, Ausbilder, Dozent und Prüfer für diesen Beruf ausschweifend vertiefen könnte, wenn ich wollte. Eines habe ich nach vielem Probieren und Experimentieren gelernt; die Natur hat es im Grunde schon perfekt gemacht, und diese Perfektion zu bewahren, ist der Schlüssel der hohen Kochkunst. Wer aber etwas ausprobieren möchte, soll Rote Bete mit Meerrettich und Preiselbeeren, gern auch in Verbindung mit Kürbis (übrigens auch Milz-Magen freundlich) versuchen. Ob als kaltes oder warmes Gericht, ist hier egal. Rote Bete verträgt sich auch sehr gut mit reichlich frisch gemahlenem Pfeffer, frisch gestoßenem Kümmel oder gerösteten Fenchelsamen (ich sag ja, ganz einfach). Besonders empfehlenswert ist es jedoch, hauchdünne rohe Scheiben der Roten Bete großzügig in gemahlenem Zimt zu wälzen, abzuklopfen und in Butterschmalz oder einem guten Öl zu braten oder zu frittieren. Sie werden beim Essen das Gefühl haben, neben einem Stapel frisch bei Regen geschlagenem Holz zu stehen und daran zu riechen. Diese Kombination eignet sich sehr gut zu kurzgebratenen Fisch-, Wild- oder auch Wildgeflügelgerichten. 

 

© Kay Weber