Gold-Röhrling (Sillius grevillei)
Es war ein verregneter und für den Spätsommer recht trüber, grauer und wolkenverhangener Tag, als ich mich vom heimischen Buchfart im Ilmtal auf den hoffnungsvollen Weg machte, Parasolpilze zu finden. Entlang unterhalb der Balsamine und oberhalb der Felsenburg, nur unterbrochen durch den beinahe schon rituellem Halt auf der hohen Nase, lief ich weiter, unterhalb des Rosenberges, in Richtung Herlitzenberg. Der Weg dorthin führte vorbei an einer Quelle, die ich vor Jahren freigelegt und mit Muschelkalksteinen fürsorglich einfasste. Bergmolche verkriechen sich dort gern zwischen den Steinen, die Jahr für Jahr mit Buchenlaub bedeckt werden.
An der Lebendigkeit der Quelle lässt sich erkennen, ob die diesjährige Regenmenge ausreichend war und die etwas entfernteren Seeteiche entsprechend gefüllt sind. Manche Jahre lief hier kein Wasser, dafür aber heute…
Ich lief weiter, vorbei an der gebrochenen Rotbuche, die sich schon seit Jahren ins Geäst einer großen Schwester lehnte. Ihr Stamm war in der halben Länge gespalten. Der gebrochene Teil klaffte weit vom Stamm weg und öffnete sich wie das Maul eines Drachens. Die andere, noch intakte, sich aber stark biegende Hälfte, steht unter enormer Spannung. Die Neigung des Baumes selbst aber genügte, dass sich ihr Wurzelteller weit genug aus dem Boden mühte, um den alten Weg zu versperren. Inzwischen ist die Erdwunde verheilt und der über die Jahre entstandene Halbbogenpfad um die Wurzel herum kein Balanceakt mehr.
Gleich darauf gehe ich vorbei an dem Hang, auf dem Jahr für Jahr im Februar immer mehr Winterlinge wachsen, die von Anemonen, Leberblümchen und dem Waldbingelkraut abgelöst werden. Mir scheint die Zeit, bis der von rotbraunen Blättern bedeckte Boden seine Farben wieder eröffnet, noch lang. Sehr lang. Ein wenig graut mir vor der dunklen, kalten und farblosen Jahreszeit.
Nur wenige Schritte weiter, direkt links am Weg, wächst im Mai das Holunder-Knabenkraut. Die einzige Stelle die ich kenne, an der diese Orchideenart vorkommt. Zehn bis zwölf Pflanzen etwa. Mehr nicht. Ich habe mit Ästen und Zweigen einen kleinen Naturzaun direkt am Wegesrand errichtet, damit Niemand aus Unachtsamkeit auf diese Orchideen tritt. Doch immer wieder reißt irgendwer diesen Schutzzaun ein.
Der Weg führt weiter, vorbei an mächtigen Eschen, Eichen, Hainbuchen, Rotbuchen und einigen kräftigen Haseln. Mein Blick streift den rechten Wegesrand, nur wenige Meter trennen mich hier vom Feld. Dennoch habe ich genau auf diesem Pfad immer wieder das Gefühl, weit entfernt von offener Fläche zu sein. Beschützt. Behütet. Beobachtet.
Und genau in diesem schmalen Streifen Unterholz, der, wenn sie denn scheint, von Sonnenlicht verwöhnt ist, sammeln sich regelrechte Parasolfamilien. Doch heute findet sich nichts, obwohl der Mond gut steht, genug Regen gefallen ist und die Temperaturen noch angenehm sind.
Gleich darauf gelange ich zu meiner geliebten heiligen Hainbuche. Ihr Stamm ist leicht gekrümmt und in sich verdreht, beinahe verwirbelt. Im Frühling, wenn die Säfte aufsteigen, drängt das Wasser durch die Rinde des Baumes, tropft von den Ästen. Das konnte ich hier zum ersten Mal beobachten und kam nicht umhin, einige dieser Tropfen aufzufangen und zu kosten. An dieser Hainbuche habe ich immer kurz verweilt, mit ihr gesprochen, sie berührt, sie genau betrachtet. Im Jahr 2022 habe ich sie in Öl festgehalten. Nackt. Laublos. Mit angespannten Knospen. An einem klirrend kalten Märztag bei stechend blauem und streifenfreiem Himmel. Ich werde sie in einem nächsten Bild auch in ihr Laubkleid gehüllt in Öl festhalten.
Der Weg wird schmaler, verwachsener, geschwungener, bis er in den Waldweg mündet, der von Legefeld nach Hetschburg in den Hengstbachgrund führt. Diesen gehe ich nur wenige Schritte und biege direkt an der verknöcherten und warzigen Feenbuche rechts ab in Richtung „Kaffeemühle“. Hier soll einst ein Waldcafé gestanden haben, welches abbrannte. Wann, weiß ich nicht mehr. So erzählte es mir Ofenbauer Böhm aus Legefeld, den ich regelmäßig zum Füttern der Vögel hier traf.
Nichts zeugt von der ehemaligen Existenz dieser nur aus Holz gebauten Gaststätte. Doch wenn man den Beschreibungen und Schilderungen von Herrn Böhm folgt, lässt sich zunächst erkennen, dass die hier wachsenden Bäume, vornehmlich Kastanien, viel jünger sind als die Umgebungsbäume. Niemand meiner alteingesessenen Nachbarn in Buchfart weiß etwas davon. Auf meiner letzten Runde im Herbst 2025 war ich mit Chrissi aus dem Dorf hier oben unterwegs. Sie wollte von mir gezeigt bekommen, welche Pflanzen hier überall wachsen. Und auch jene Stelle auf dem Herlitzenberg mit dem Waldcafé, von dem ich ihr erzählte. Auch sie wusste nichts darüber, obwohl sie in Bezug auf die Geschichte rund um Buchfart, besonders die Felsenburg, erstaunlich viel Wissen und Aufzeichnungen angesammelt hat.
Ich ging langsam zur Vogelfutterstelle, die Herr Böhm im Laufe der Jahre errichtet hat. Ein Futterhaus steht am Stamm einer umgestürzten Kastanie. Zum Ende der Krone des Baumes steht eine Bank, daneben ein Gedenkstein. An anderen Bäumen hat Herr Böhm Nistkästen angebracht. Jeden Vormittag trifft man ihn hier. Er füllt das Futterhaus auf, steckt Apfelspalten in die Astlöcher. Und immer, wenn ich hier bin, habe ich Äpfel und Vogelfutter dabei; im Winter auch Meisenknödel.
Besonders die Kohlmeisen und die Kleiber sind hinter dem Futter her. Die Buntspechte hängen sich von unten an die Meisenknödel und picken geschickt die Körner heraus. Sogar ein Eichhörnchen hat sich durch lautstarkes Schimpfen, drohendes Schweifzucken und energisches von Ast zu Ast springen einen Platz im Futterhaus erkämpft, sucht sich aber nur die fetten Nüsse heraus.
Oft saß ich hier mit Herrn Böhm. Sein kleiner weißer West-Highland-Terrier platzierte sich auf der Bank zwischen uns. Herr Böhm und ich redeten über so Manches. Dabei stellten wir fest, wie viele Leute aus der Gegend wir gemeinsam kennen. Sogar er war es, der den Kachelofen bei meinen Großeltern in Bucha setzte. Das muss in den 1960ern gewesen sein.
Während dieser Gespräche schoss es mir immer durch den Kopf, wie alt ich inzwischen sein muss, dass ich bei so vielen Erzählungen von Herrn Böhm mitreden kann. Treffpunkt Milchrampe, Pfeiffers in Keßlar, Herolds in Milda, Gengelbach´s in Buchfart, der Dorfkonsum in Bucha oder Magdala, Arbeiterbusse mit Passagieranhänger, frisches und dampfendes Wellfleisch aus dem Schlachtekessel mit Kümmelbrot und Malzbier, Riesenboviste im Wappenholz.
Eine zeitlang blieb ich hier auf der Bank sitzen, nachdem ich etwas Futter verteilt habe. Es regnete ein wenig, aber ich blieb und beobachtete die geschickt an den Kastanienstämmen auf und ab flitzenden Kleiber und versank in meiner Wahrnehmung. Die gedankenfreien Augenblicke, das unbefleckte Beobachten ohne jedes Abschweifen gelang mir hier ebenso gut, wie an meiner heiligen Hainbuche. Sehr vermisse ich den Ort, die Gegend, mein Buchfart, meine Nachbarn und Freunde. Das Rauschen der Ilm, das Schlagen des Mühlrades, den Duft von Antjes Kuchen, die Gespräche mit Volker, Renates Winken, wenn sie über den Hof ging um in der Scheune Kartoffeln zu holen, während ich auf der Treppe vor meiner Tür rauchte. Und Franks Pferde. Auch seine hungrigen Hühner, die mich laut gackernd und krächzend angebettelt haben, wenn ich den Hof betrat, um mein Auto zu holen. Immer hatte ich Haferflocken für sie dabei. Die zarten Flocken mochten sie besonders, hier und da gab es Zank. Dann genügte ein Wort von mir und die Außenseiter-Hühner kamen auch zum Zug.
Der Regen nahm zu und ich stand auf, ging zurück in Richtung der Feenbuche. Deren Äste waren bemoost und mit einer Großfamilie des Buchen-Schleimrüblings bewachsen. Nur einige Schritte weiter in Richtung Legefeld, versteckt im Dickicht am Wegesrand, ist die zweite von Herrn Böhm errichtete Vogelfutterstelle. Gleich dahinter befindet sich ein etwa drei Hektar großes Aufforstungsareal, welches, nach einem Kahlschlag, im Jahr 2011 angelegt wurde und bisher von einem Maschendrahtzaun umringt war. Diese Fläche wurde mit Waldkiefern, Fichten, Lärchen, Ahornbäume, Ebereschen und Eichen gemeinsam bepflanzt. Über dieses Arrangement einer phytosozialen Zwangsgemeinschaft kann man sich aufregen, dennoch steht der Wald nun mal vorwiegend als Nutzfläche zur Verfügung und aus rasch wachsenden Gehölzen ziehen wir alle unseren Nutzen.
Die Kiefern haben noch keine vier Meter erreicht, die Fichten wirken müde, die Ebereschen ausgedünnt und kränklich. Sie scheinen sich in dieser Gesellschaft nicht wohl zu fühlen. Einzig die Ahornbäume und Lärchen glänzen durch aufrechtes Wachstum und üppige Belaubung, wobei der nahende Herbst schon ein wenig Farbe hinterlassen hat. Die jungen Eichen sind alle so gut wie tot. Ihnen fehlt offensichtlich der Schatten ihrer Mutterbäume. Diese Gesellschaft scheinen sie gar nicht zu vertragen.
Der Boden ist sehr trocken, stark muschelkalkhaltig, die darüberliegende Humusschicht dünn und bedeckt von völlig verfilztem Schaf-Schwingel und Borstgras. Die Gräser liegen, über kleine, weiche Hügel verteilt braungrau, schlaff und lustlos, als fehlte ihnen die Orientierung, in alle Richtungen. Nur wenige und gerade noch schwach grüne Halme ragen empor, verschwimmen aber im Licht des doch etwas trübseligen Anblicks. Kaum eine andere Pflanze wächst hier und kein anderes Gras mag in dieser Gesellschaft gedeihen. Zwar ist der Schaf-Schwingel durchaus gesellschaftsvag, kommt also gern in vielen verschiedenen Pflanzengesellschaften vor, doch ist das Borstgras, neben zahlreichen sich durch das Gras mäandernde Brombeerranken, die einzige bodennahe Gesellschaft.
Bemerkenswert ist aber auch, dass sich in den Kronen der Bäume ausschließlich Kohlmeisen finden lassen. Für keinen anderen Vogel scheint diese Aufforstungsfläche in irgendeiner Weise interessant zu sein.
Die Äste der Kiefern breiten sich noch dicht über dem Boden aus und lassen nur wenig Licht zu. Einzig scheint sich der Gold-Röhrling hier wohl zu fühlen, dessen Hüte hier dicht an dicht in einzelnen Gesellschaften durch die braungrauen Halme der Gräser leuchten und sogar ein wenig glänzen. Fraßspuren sind keine zu sehen, dafür geringfügiger Wurmbefall bei den etwas ausgewachseneren Pilzen.
Ich rieche an den Pilzen, der Geruch ist leicht pilzzig-appetitlich, aber schwach, die Hüte noch nass vom Regen und schleimig. Und bevor ich den Nachhauseweg mit einem leeren Körbchen antrete und ohnehin auf den Hochgenuss eines panierten und in reichlich Butterschmalz ausgebackenem Parasolhutes verzichten muss, nehme ich eben diese Gold-Röhrlinge mit. Nur anders zubereiten werde ich sie müssen.
Beim Pflücken fällt mir ihre Weichheit, Druckempfindlichkeit und Schleimigkeit auf, was eine appetitmindernde Wirkung auf mich hat. Aber was soll’s. Für eine Art Schwammerlgulasch wird’s reichen.
Beim Freilegen der Pilze fällt mir Moos auf, welches unter den verfilzten Gräsern wohl noch genug Licht zu bekommen scheint. Ein Zierliches Gleichflügelmoos (Pseudotaxiphyllum elegans), welches durch seine frischsaftig-grüne Farbe einen sehr schönen Kontrast bildet, der mich auf den Gedanken kommen lässt, doch auch Pilze in ihrem Lebensraum zu illustrieren. Also grabe ich ein Exemplar großzügig aus, bedecke es mit einem Tuch, platziere es behutsam in meinem Korb und lege eine schützende Hundekacktüte aus meiner Jackentasche darüber.
Noch einige weiterre Pilze sammle ich ein, während ein kräftiger Regenguss über mich hereinbricht. Trotzdem krieche ich in diesem doch recht unwegsamen Gelände weiter und bleibe immer wieder in den sich über den Boden schlängelnden Brombeerranken hängen. Erst hier fällt mir wieder auf, dass die Brombeeren den Boden wie ein netzartiges Gewebe bedecken und auf mich derart wirken, als sorgten sie für eine Art des Wundverschlusses. Diese Beobachtung konnte ich auf Kahlschlagflächen machen.
Kaum das Harvester und Traktor verschwunden sind und ein der Austrocknung geweihtes wie zerfurchtes Schlachtfeld hinterlassen haben, schlängeln sich Brombeerranken kreuz und quer, und scheinbar ohne einer sich für uns erschließenden Logik folgend, über den narbigen Waldboden. Im darauf folgenden Frühling sieht man schon die ersten Buchen- und Eichenschösslinge keimen, umringt von Brombeerstachelschlangengewirr. Vielleicht eine naturintelligente Art der Verbissvermeidung infolge Windbruchs oder eben menschlichen Wirkens.
Ziemlich nass also krieche ich mit ausreichend Pilzen im Korb aus diesem Jungdickicht heraus und erreiche mit eiligem Schritt einen Hochsitz am Waldrand. Gleich nah an meiner heiligen Hainbuche. Zwar bin ich ziemlich durchnässt, aber der Regen ist kalt und die Luft passt sich der Kühle an. Nur wird mir hier oben auch nicht warm und gleichsam schnell trocken. Den Pilzen im Korb scheint der Regen auch nicht sonderlich zuträglich zu sein und deren Schleimbildung anzuregen. Abgesehen von der schönen Farbe kein Anblick, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.
Der Schauer lässt nach. Es bleibt ein sanftes Nieseln übrig und ich laufe den Weg zwischen Hainbuche, Holunderknabenkrautschutzgebiet, Winterlinghang und Bergmolchquelle zurück in Richtung Balsamine. Dort, ebenfalls im lichten Waldrand, habe ich auch schon Parasolpilze gefunden. Meine Hoffnung bleibt, nur gefunden habe ich nichts weiter, als ein paar Rotfußröhrlinge mit Schimmelpelz auf den Hüten und einen einzigen aufrecht stehenden Schopftintling im perfekten Zustand. Aber eben nur einen. Den überlasse ich seinem schwarzblauen Auflösungsprozess.
Weiter in Richtung Balsamine schlängele ich mich den Waldboden genau inspizierend durch Gestrüpp, finde aber keinen Parasol oder sonst irgendetwas Verwertbares. Auf dem inzwischen schlammigen Pfad bin ich an der Balsamine angekommen. Wie immer ist hier 17:00 Uhr Zapfenstreich und keine Kartenzahlung möglich. Aber der Blick an diesem geschichtsträchtigen Haus vorbei ins Ilmtal, auf Buchfahrt und den Paulinenturm lohnt sich bei jedem Wetter.
„Wie schön lebe ich hier…“, sage ich mir tief und wohlig durchatmend.
Mein Blick fällt in den Korb. Die Gold-Röhrlinge haben sich zu einem schleimigen Konglomerat geformt, welches meine Abendmahlplanung torpediert und mich nach Alternativen sinnieren lässt. Währenddessen brilliert meine Freundin in der Oberpfalz mit Bildern von Steinpilzen. Ich bin nass, mir wird kühl, ich habe Hunger.
Den Hang oberhalb des Dorfes hinab muss ich vorsichtig, bestenfalls Zickzack gehen, um nicht auszurutschen. Erst kürzlich bin ich diesen Hang bei trockenem Wetter mit dem Fahrrad langsam und dauerbremsend hinab gefahren, bin aber trotzdem gestürzt und habe mich im Weidezaun von Franks Pferden wie eine Kohlroulade verwickelt. Inklusive des Fahrrads. Es hat gedauert, mich zu entwirren und die 30 mA waren in ihrem rhythmischen Wellengang recht deutlich.
An diesem Sonntagnachmittag war auch schon Antjes Softeis-Kuchen-Kaffee-Verkaufsfenster geschlossen. Also kein Trosteis.
Die schleimige Haut vom Kopf des Pilzes zu ziehen, war reine Sisyphos-Arbeit. Eher eine Verzweiflungstat. In der Pfanne, mit Speck und Zwiebeln, wollten die Gold-Röhrlinge auch keine Farbe nehmen und blubberten wie ein übergartes und zerkochtes Ragout hellbräunlich vor sich hin. Der Geruch war wässrig-lehmig, so, als würde man gleich mit dem Gesicht voran in eine Schlammpfütze fallen. Auch Majoran, etwas Kümmel und frische Petersilie konnten dieses Debakel nicht retten. Ein Anblick, der sich sonst wohl nur Pathologen eröffnet, wenn sie den Mageninhalt eines Verstorbenen vor sich haben.
Normalerweise lasse ich ja nichts umkommen. Der mir innewohnende Respekt vor dem, was wir haben und die Dankbarkeit dem gegenüber, wie gut es uns geht, half diesem Pilzschlamm auch nicht. Egal, wie viel Gold er in seinem Namen tragen mag. Der Abend endete also mit gebranntem Brot und Eiern. Zum Kochen hatte ich keine Lust mehr.
Das ausgegrabene Goldröhrling jedoch strahlt wie nach der Bodenentnahme und ich habe noch am gleichen Abend begonnen, ihn zu skizzieren. Da mir die zügige Vergänglichkeit des Pilzes nun mehr als bewusst war, machte ich zur Sicherheit noch einige Aufnahmen, stellte den Pilz in einer Tonschale vor die Tür und bedeckte ihn mit Laub aus dem Vorgarten.
Am nächsten Tag begann ich damit, ihn zu illustrieren. Aber kaum, dass er in meiner Maldiele vor mir auf dem Tisch stand, begann er sich zu verändern. Aber ich hatte ja noch die Bilder als Vorlage.
Der Pilz ließ sich nicht retten. Ich grub seine faulenden Reste in meinen Vorgarten. Dort gediehen inzwischen einige meiner Modelle, die ich gezeichnet habe. Das Leberblümchen, das Frühlingsveilchen, die Stinkende Nieswurz, der Weinberg-Lauch. Der Gold-Röhrling aber, und das war mir klar, erschien nie wieder.
Ich vermeide bewusst, Lehrreiches über Pilze zu schreiben. Dieses Wissen kann man sich inzwischen überall anlesen und ergoogeln. Welche Umgebung oder Pflanzengesellschaften der Gold-Röhrling bevorzugt, konnte ich aus der Beobachtung schlussfolgern. Auf jeden Fall Kiefern. Unter denen fühlte er sich offensichtlich wohl. Aber die Literatur behauptet, dass Gold-Röhrlinge fast ausschließlich in Gemeinschaft mit der Europäischen Lärche anzutreffen seien. Nur selten in der Nähe anderer Lärchenarten und noch seltener bei Douglasien. Die gab es dort, am Herlitzenberg, aber nicht. Es widerfährt mir häufig, dass meine Beobachtungen nicht mit den Erklärungen aus der Fachliteratur übereinstimmen. Und ich habe in meinem Berufsalltag, der zwar ein gänzlich anderer ist, gelernt, dass gern Vieles so geschrieben wird, damit es passt. Stimmig ist. Der Leser liest, was er lesen möchte oder überhaupt eine Erklärung bekommt. Hauptsache, es steht ein mit Titel gezierter Name darunter. Oder der einer Einrichtung, Fakultät, Behörde, eines Institutes. Wie auch immer.
Wir sollten wieder ein stückweit lernen, unserer Wahrnehmung zu folgen, unserer Intuition, unserem Gespür oder dem Instinkt. Dem Wissen aus der Beobachtung. Nicht einer Ansammlung kalten Faktenwissens, das wir nicht zu verknüpfen in der Lage sind. Wir lernen, Wiedergabeautomaten sein zu müssen, um erfolgreich zu sein. Das zu antworten, was gehört werden will. Dann sind wir klug, erfolgreich, karrieregeeignet, preisverdächtig.
Ich will nicht Alles in Frage stellen, aber der Kontrast zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was wir gelernt bekommen haben und gelernt bekommen, wird (für mich) immer deutlicher. Und das trägt wohl immens dazu bei, dass wir uns nach und nach von uns selbst entfernen und ein (wohl bewusst inszeniertes) entwurzeltes Dasein führen. Natur wird mehr und mehr als funktional, als logisch, mechanistisch und rein atomistisch betrachtet. Das Wunder des Lebens verlässt das Leben mehr und mehr. Man muss nur die Menschen beobachten.
@Kay Weber