Hohe Schlüsselblume (Primula eliator)

Die Primelarten zeichnen sich durch ihre Heterostylie (Verschiedengrifflichkeit) ihrer Blüten aus, durch die eine Fremdbestäubung gewährleistet wird. Bei einem Teil der Individuen stehen die Narben auf langen Griffeln am Blüteneingang und die Staubbeutel deutlich tiefer; bei einem anderen Teil sind die Verhältnisse umgekehrt. Hummeln und Falter, die zuvor eine Blüte mit oben stehenden Staubbeuteln besucht haben, bringen den Pollen am leichtesten auf langgriffelige Blüten, und nur dort vermag er zu keimen. Die langgriffeligen Individuen können sich nicht miteinander fortpflanzen; dasselbe gilt für die kurzgriffeligen. 

Im Jahr 2022 habe ich mich an einer europaweiten Schlüsselblumenzählung beteiligt, initiiert von der Universität Vilnius, in der es darum ging, herauszufinden, ob sich das Verhältnis zwischen lang- und kurzgriffligen Blüten durch klimatische Einflüsse verändert haben mag. Fleißig habe ich in der Gegend um Buchfart die Blüten gezählt, verglichen und dokumentiert. An das Ergebnis der Zählung kann ich mich nicht erinnern - und auch nicht daran, ob eine vergleichende Zählung zuvor stattgefunden haben mag. Auf jeden Fall jedoch fand die Zählung eine beeindruckende Beteiligung. 

Ich denke jedoch, dass nicht nur klimatische Einflüsse zu Veränderungen bei den einzelnen Individuen führen kann, sondern auch lokale Bedingungen durch die Art und Weise der umgebenden Bewirtschaftung. Die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln und gentechnisch veränderten Ackerpflanzen, die dadurch einhergehenden Veränderungen bei Insekten, natürlich auch deutlich wahrnehmbare und längere Trockenperioden und natürlich die Intensität der Land- und Forstwirtschaft mit der damit einhergehenden Bodenverdichtung. Auch mögen die milden Winter der letzten Jahre dazu beitragen. Zahlreiche einheimische Pflanzen benötigen Frostperioden, um ihre Samen keimfähig zu machen. Ob nur ein einzelner Faktor, wie das Klima, für Veränderungen in Flora und Fauna verantwortlich gemacht werden kann, möchte ich deutlich in Frage stellen, da durch die Vielfalt der beeinflussenden Handlungen menschlichen Wirkens und dadurch einhergehende Überschneidungen wohl kaum ein einzelner Schuldiger ausgemacht werden kann. Die Komplexität dieser gegenseitigen und sich an vielen Schnittpunkten überlappenden Einflussfaktoren wird kein noch so brillanter Geist nachvollziehen, geschweige denn, wissenschaftlich untersuchen können. Fakt ist, dass wirklich nur noch an abgelegenen Stellen Schlüsselblumen fröhlich, munter und zahlreich blühen, wo kein Traktor, kein Mähdrescher, kein Forester hingelangt oder sich monokulturelle Getreide- und Maisplantagen in direkter Nachbarschaft befinden.

Ich erinnere mich sehr gut an meine Kindertage, als Schlüsselblumen noch derart zahlreich auf Wiesen, Lichtungen und an Wald- und Wegrändern blühten, dass es fast schon ein ritueller Frühlingsbrauch war, einen kleinen Strauß zu pflücken und der Mutter oder Großmutter von seinen  Streifzügen mitzubringen. Auch weiß ich noch, dass es oft die Mütter, Großmütter, Tanten oder auch die Frauen aus dem Dorf waren, die selbst bei Spaziergängen einen kleinen Strauß pflückten und mit nach Hause nahmen. Auch heute kann man beobachten, wie (vornehmlich) Frauen es sind, die sich im Frühling Blumen ins Haus holen; ob es sich nun um Märzenbecher, Anemonen, Weidenkätzchen, Leberblümchen und Lungenkraut handelt, oder später um blühenden Flieder. 

Was mag die Triebfeder dessen wohl sein, außer sich den Frühling und einen süßen Duft ins Haus zu holen? Ich denke, der Sinn dieses Handelns liegt viel tiefer. Vielleicht ist es ein noch tief in uns verwurzeltes und archaisches Verhaltensmuster, welches, angekitzelt von Frühlingssonne, Vogelgesang, allmählich längeren, helleren und wärmeren Tagen, frischem Frühlingsgrün und den ersten Blüten des Jahres geweckt wird und uns unbewusst viel tiefer Handeln lässt, als es uns klar ist. Bei Kindern, die viel näher an dieser Erinnerung sein dürften (und es sicher auch sind), ist dieses Treiben in einer beinahe meditativen Akribie, gefolgt von überbordender Freude über die Blume oder den kleinen Strauß in ihren winzigen Händen, viel häufiger zu beobachten.  

 

Wenn man sich der Deutung der Blumensprache bedient, sich das Heilspektrum dieser Pflanzen betrachtet, die Wirkung der Farben und Düfte auf die Seele des Menschen oder auch die Botschaften aus den planetarischen Sphären, mit denen Pflanzen eindeutig verbunden sind und kosmische (göttliche?) Botschaften zu uns zu tragen vermögen, und einfach mal vergleicht, in welcher Lebensphase und/oder -situation sich der Blumenliebhaber oder -sammler gerade befindet, wird man schnell Zusammenhänge erkennen, die zwar nicht wissenschaftlich erklärt werden können, aber durchaus von einem instinktiven Handeln oder sogar einer ätherischen Verbindung zeugen. 

Unser Handeln geht oft tiefer, als es der bewusste Verstand wahrhaben kann und will. 

 

Die Echte Schlüsselblume (Primula veris) dient schon seit langen Zeiten als Heilpflanze. In der Volksmedizin nutzte man die Wurzel als Mittel gegen Rheuma und als Niespulver. Letztere Anwendung galt auch als eine Art der Austreibung von dem Menschen nicht gütlich gesinnten Entitäten - also eine Art der Geisteraustreibung. Der Moment des Niesens war für unsere indoeuropäischen Vorfahren ein magischer Moment. Der Moment des Übergangs, des „Sich-öffnens“, vielleicht auch der Austreibung. 

Heute werden Präparate aus der Blüte mit ihrem honigähnlichen Duft als Mittel gegen Husten eingesetzt. Auch gibt es einige Wurzelpräparate, die empfohlen werden, um Schleim aus den Atemwegen lösen und so das Abhusten bei Erkältungen lindern können. Bekannt ist, dass die Inhaltsstoffe die Magenschleimhaut reizen, wenn man zum Beispiel einen Saft aus Primelwurzeln einnimmt. Dieser Reiz soll Nervenfasern anregen, die unter anderem die Bronchialschleimhaut dazu bringen, mehr Schleim zu bilden. Das Sekret wird dünnflüssiger, und es kann leichter abgehustet werden. Extrakte aus Primelwurzeln kommen in Fertig-Arzneimitteln vorwiegend in Kombination mit Thymian vor. Dieses Kraut enthält ätherische Öle und wirkt ähnlich, hat jedoch andere Angriffspunkte in den Bronchien.

Weiterhin empfiehlt sie Volksmedizin die Schlüsselblume bei Migräne, Nervosität, Herzschwäche, Schlafstörungen und Gicht. Auch als Mittel gegen Apoplex und dessen Lähmungsfolgen („Schlagkraut“) sowie als Wund- und Schönheitsmittel wird verwiesen. In der Homöopathie findet das „Himmelsschlüsselchen“ Anwendung bei Neuralgie, ebenso Migräne, Rheuma- und Gichtschmerzen. 

Hildegard von Bingen sagte: „Aber dieses Kraut empfängt hauptsächlich von der Kraft der Summe seiner Kräfte, daher unterdrückt es die Melancholie im Menschen.“ 

 

Als offenkundiger Frühlingsbote erfreute es Kelten und Germanen. Keltische Druiden sollen die vor Neumond gepflückten Blüten (zusammen mit Eisenkraut, Moos, Klee und Honig) zu einem heilenden und berauschenden Getränk verwendet haben. 

Die schlüsselähnliche Gestalt der Blüten animierte zu Sagen und Legenden. So erzählte man sich in Oberösterreich, dass sich ein junger Mann von Geistern einen goldenen Schlüssel habe anfertigen lassen, um damit die Himmelspforte aufzuschließen. Er stieg hinauf, hatte jedoch keinen Erfolg, sondern stürzte samt Schlüssel zurück auf die Erde, wo er besinnungslos liegen blieb. Als er erwachte, war der Schlüssel in seiner Hand zu einer Blume geworden, die in der Erde Wurzeln schlug. 

Auch soll dem heiligen Petrus aus Versehen der Himmelsschlüssel aus der Hand zur Erde gefallen sein, wo sein Abdruck die Schlüsselblumen sprießen ließ. Den Schlüssel selbst ließ der Himmelspförtner durch einen Engel zurück holen. 

In der Rhön soll die Schlüsselblume Türöffner für verborgene Schätze sein. In Schwaben fand ein Kuhhirt bei der Ruine Blankenhorn im Spätherbst eine Schlüsselblume und steckte sie auf seinen Hut, der ihm bald darauf zu schwer wurde. Als er nachsah, war die Blume in einen silbernen Schlüssel verwandelt und zugleich stand eine Jungfrau vor ihm, die ihm sagte, er sollte die verborgene Türe im Heuchelberg aufschließen und von drinnen mitnehmen, was er wolle, aber das Beste dabei nicht vergessen. Er füllte sich Säcke und Taschen, ließ aber das Beste, die aufschließende Blume, liegen. 

Ein Schäfer von Kolbenkamm in Baden wurde von einer Jungfrau auf einen Platz mit Schlüsselblumen geführt und ihm wurde mit Hilfe der Schlüsselblume ebenfalls eine Türe zu verborgenen Schätzen geöffnet, an denen er sich bediente. Aber auch er vergaß „Das Beste“. 

Findet eine unverheiratete Frau in der Karwoche eine Schlüsselblume, so sagte man in Siebenbürgen, dann wird sie noch im selben Jahr jenen Mann heiraten, den sie liebt. In verschiedenen Gegenden Frankreichs waren bei den Mädchen Orakel mit den „primevéres“ sehr beliebt. Man brachte mehrere Blüten in ein Glas mit Wasser und gab jeder Blüte den Namen eines anwesenden Mädchens, Diejenigen, der Blüten aufrecht im Wasser schwammen, konnten mit großem Glück rechnen. Mädchen, deren Blüten umfielen, hatten Unglück zu erwarten. In anderen Versionen konnte die Richtung des Umfallens anzeigen, wohin das Mädchen heiraten würde. 

In Mittelfranken hieß es: Wenn die Schlüsselblumen lange Stiele haben, wird auch die Gerste hoch und kurze Stiele weisen darauf hin, dass die Gerste niedrig bleiben wird. 

In Ost- und Westpreußen wurde empfohlen, die ersten drei im Jahr gefundenen Schlüsselblumen zu verschlucken, um gegen Fieber und Halsschmerzen geschützt zu sein (ganz ähnlich wende ich selbst ein ähnliches Ritual mit den ersten sieben gefundenen Huflattichblüten an. Kniend und dankbar esse ich diese Blüten und bleibe so das ganze Jahr gesund). 

 

Dieser Glaube (ich sage bewusst nicht Aberglaube) an die vielfältigen Wirkungen und Anwendungen der Schlüsselblume - und den Pflanzendevas allgemein - ist uns weitestgehend verloren gegangen und vielleicht handelten unsere Mütter und Großmütter noch aus einer nicht in Worte kleidbaren Erinnerung heraus, die ihnen selbst auch nicht bewusst ist. Wir wissen letztlich kaum noch etwas über das Wirken des morphischen Feldes, dem Gedächtnis der Natur, welches Alles in der Natur durchdringt; und das Rupert Sheldrake so treffend beschreibt.  

Andererseits sind Schlüsselblumen auch mit Tabus belegt. In manchen Gegenden Frankreichs und Englands sollen sie nicht ins Haus gebracht werden, da sie dann Unheil und Pech mit sich bringen. Ich kann mich auch daran erinnern, dass es, wenn man Jemandem Primeln schenkt, in der Blumensprache bedeutet, demjenigen die Pest an den Hals zu wünschen. Und beinahe jedes Jahr habe ich als Fische-Geborener im zeitigen Frühling schon adrett arrangierte Buketts mit (Osterglocken, Hyazinthen) und Primeln als Geburtstagsblumen geschenkt bekommen. Doch bisher ist mir, trotz dieses Wissens, diese eher unschöne Begleiterscheinung erspart geblieben. Sicher auch deshalb, weil die Schenker davon selbst gar nichts wissen und in gutem Glauben handeln. Mein alter Garten hinterm Haus in Jena zumindest hat diese Primeln gern aufgenommen und sie haben sich Jahr für Jahr fröhlich und teppichartig ausgebreitet. 

Eine andere Deutung aus der Blumensprache sagt aber auch, dass die Primel als Zeichen der Liebe gilt und aus reiner Dankbarkeit verschenkt wird. Und diesem Gedanken fühle ich mich vielmehr hingezogen. 

 

In der planetarischen Signaturenlehre wird die Schlüsselblume eindeutig dem Glücksplanet Jupiter zugeordnet - Planet der Harmonie und Wohltätigkeit. Glück, Einfluß und Reichtum sind dem beschert, der eine gute Jupiterstellung im Horoskop hat. Jovialität (Jovis = Jupiter) zeichnet den Jupitermenschen aus. Das sind dann wohl jene, die den Himmelsschlüssel für verborgene Schätze nicht aus der Hand fallen lassen. Jupiter steht für Ausdehnung, Assimilierung, Anreicherung, Wachstum, Wohlbefinden, Neubeginn, Erweiterung, Kreativität, Durchbruch, Selbstverwirklichung und unerwartetes Glück im April. Prinzip steht für Mitte, Energiefreisetzung, Leben, Gefühlsäußerung und Gleichmaß.

Zugleich ist in der Schlüsselblume auch die Signatur der Sonne zu finden. Ohne Sonne wäre kein Leben, wie wir es kennen, möglich. So steht die Sonne im Horoskop für das Vitale schlechthin. Sie gibt Auskunft darüber, wie groß unser Lebenswille ist. Dieser Lebenswille ist durchaus auch an der Vermehrungsfreudigkeit der Schlüsselblume zu erkennen. Aber nur dann, wenn sie in ihrem Lebensraum auch wirklich ungestört ist und bleibt. 

 

Diese hier illustrierte Schlüsselblume habe ich an einem noch recht kühlen und verregneten Osterwochenende 2023 in Liebenau (nahe Nienburg) gezeichnet. Sie stand (und steht noch) im Garten meiner Schwester direkt an der Gartentür. Obwohl ich an diesem Wochenende eher mit dem Fahrrad unterwegs sein wollte, das Wetter einen solchen Ausflug mir aber verübelte, hob ich die Pflanze großzügig aus, zeichnete sie eine Weile, setzte sie über die Nacht hinweg wieder an ihren Platz und zeichnete sie am nächsten Tag (der noch übler und unangenehmer war) komplett zu Ende. Es versteht sich von selbst, dass ich sie gleich darauf wieder an ihrem Stammplatz fürsorglich eingrub. 

Interessant ist, dass ich mich an unglaublich viele Details aus den Tagen erinnern kann, an dem ich eine Pflanze zeichnete. Nicht nur das Wetter. Obwohl daran sehr genau. Was es zu essen gab, wo ich einkaufen war, welche Musik ich gehört habe, wer mich anrief, welche Kleidung ich trug, welche Gedanken im Hintergrund mich beschäftigten. Egal, welche Pflanze ich zeichne. 

Von anderen Tagen weiß ich nicht mehr viel; und schon gar keine Details. Aber Tage und deren Ereignisse - mögen sie auch noch so belanglos sein -, an denen ich zeichne, verankern und manifestieren sich in meiner Erinnerung wie ein Denkmal.  

 

 

Saatengrün, Veilchenduft, 

Lerchenwirbel, Amselschlag, 

Sonnenregen, linde Luft!

Wenn ich solche Worte singe, 

Braucht es da noch große Dinge 

Dich zu preisen, Frühlingstag?

 

(Uhland)