Wirsing (Brassica oleracea convar. capitata var. sabauda)
Als sehr charakteristisch anmutender Vertreter der Kopfkohle ist der Wirsing durchaus bekannt. Seine regional bedingte Namenvielfalt im deutschsprachigen Raum reicht von „Wirsingkohl“, „Welschkohl“, „Welschkraut“, „Savoyerkohl“, „Wirsching“ bis hin zum „Schavur“ oder „Wirz“. Seine französische Bezeichnung „Chou de Milan“ lässt sich mit „Kohl aus Mailand“ übersetzen, was wahrscheinlich auf ein Ursprungsgebiet südlich der Alpen vermuten lässt. Auch die Bezeichnung „Savoyerkohl“ zielt wohl auf Norditalien ab, welches einst die Bezeichnung für das nördliche Italien war. Die Bezeichnung „Brássica“ für „Kohl“ jedoch ist von unbekannter Herkunft.
Nun könnte ich als gelernter und geübter Koch sicher zahlreiche Rezepte, Tipps und Hinweise zum Wirsing geben, doch denke ich, dass hierzu schon mehr als genügend geschrieben steht. Außerdem geht es mir eher um die Wirkung einer Pflanze auf Körper und Geist, um unser Wohlbefinden, was nicht von überalterten Nährwerttabellen abgeleitet werden kann. Auch seine tatsächliche Herkunft möchte ich beleuchten. Denn schließlich muss ja so ein kultiviertes Gemüse eine Abstammung haben, eine Urmutter, eine Mutterpflanze - wenn man nicht Alles mit der Urknalltheorie erklären möchte.
Kaum ein Gemüse begegnet uns in freier Natur in jener Form, wie es in unseren Gemüseregalen und -läden nett arrangiert, wohlig beleuchtet und beinahe makellos auf uns wartet. In unserer Kulturlandschaft gibt es nur noch wenig, was wir als reine Nahrungspflanzen bedenkenlos zu uns nehmen können - abgesehen von zahlreichen Wildkräutern, Beeren, Pilzen, Früchten, Samen und Wurzeln. Die Wildform unserer Nahrungspflanzen ist uns kaum bekannt und oft ist es mit sehr viel Zeit, Aufwand und Mühsal verbunden, die noch essbaren Freiwüchsler in Genussfähigkeit zu überführen.
Wer einmal die Vielfalt der Blattsalate betrachtet, wird sich wundern, dass diese alle vom Wilden Lattich (Lactuca serriola) abstammen sollen, wobei es hier sehr viele unterschiedliche Arten gibt. Im Namen „Lattich“ steckt schon der Begriff „Latte“, der für „Milch“ steht, was auch im Begriff „Salat“ zu finden ist und für „milchführend“ steht. Darüber hinaus gibt es die Familie der „Milchlattiche“, von denen wohl auch einige für Züchtungen und Kreuzungen hergenommen wurden, wobei ich mich immer wieder frage, wer wann auf die Idee der Domestizierung von Pflanzen gekommen ist, die heute als nutzlose Unkräuter tituliert werden. Allein für die Nutzung muss es einen Auslöser gegeben haben, einen Hinweis, eine Idee, die Inspiration, wie durch Anbau, Kultivierung, Kreuzung und Züchtung völlig anders erscheinende Gewächse entstehen können.
Und wie verhält es sich nun mit dem Wirsing oder den Kohlgemüsen allgemein? Gibt es einen Urkohl oder Wildkohl, so wie es von Allem und Jedem eine Ur- und/oder Wildform gibt?
Natürlich gibt es eine Wildform - und wie so oft, kommt diese aus dem nahen Osten. Aber über Umwege. Einige Vorfahren des Wildkohls wachsen auch an den felsigen Küsten Englands und Frankreichs. Die Kohlsorten, die wir heute essen, stammen aber gar nicht aus England oder Frankreich, sondern aus 4.000 Kilometern Entfernung. Wie ist das möglich?
Die Domestikation (die Umwandlung einer Wildpflanze in eine Kulturpflanze) erfolgte in zwei Schritten. Griechische und römische Schriftsteller erwähnten Brassica-Gemüse bereits 400 v. Chr. Sie beschrieben sehr unterschiedliche kohlartige Sorten, wahrscheinlich wie Grünkohl und Palmkohl, aber auch bereits sehr große Kohlköpfe. Nach dem ersten Schritt der Domestizierung in Westeuropa fand der zweite im Nahen Osten statt. Genetischen Untersuchungen zeigen, dass diese alten, kohlartigen Pflanzen aus Westeuropa eine Rolle spielten. Wahrscheinlich spielte der Zinnhandel eine große Rolle - zumindest wird das vermutet. Zinn wurde in Cornwall und Galicien abgebaut und um 2500 v. Chr. per Schiff in den Nahen Osten gebracht. Die Schiffer nahmen Gemüse und Saatgut mit auf die Reise. Profan betrachtet handelte man also erst mit Metall, bevor man sich Gedanken machte, wie die Bäuche zu füllen sind.
Auf Helgoland wächst ein sogenannter „Klippenkohl“, der dem Grünkohl recht ähnlich sieht und noch am ehesten an das Erscheinungsbild des Kohls erinnert. Da er Feuchtigkeit und nährstoffreiche Böden liebt, gedeiht Kohl insbesondere in Küstenregionen und bei gemäßigtem Klima prächtig. Seine Verwandtschaft mit Raps, Senf, Rettich und auch Radieschen äußert sich im typischen Kohlaroma, dass durch im Senföl enthaltene, schwefelhaltige Glucosinolate bestimmt wird. Dem schweren Geruch, der sich während der Zubereitung schnell im ganzen Haus breitmacht, kann man mit einem Schuss Essig im Kochwasser entgegentreten. Wenn man das mag.
Der Wirsing aber ist eines der ältesten kultivierten Gemüse. Er ist seit Jahrtausenden in Gemüsegärten zu finden und hat seinen tatsächlichen Ursprung an den Meeresküsten der Bretagne, wo für ihn ideale klimatische Bedingungen herrschen. Auf extreme Temperaturen reagiert er sehr empfindlich und an der bretonischen Küste gedeiht er bei milden Temperaturen und gleichbleibender Luftfeuchtigkeit am besten.
Nun zu den gesundheitlich wirkenden Aspekten des Wirsings. Ähnlich wie Weißkohl enthält er sehr viele Glukosinolate (Senfölglykoside), welche in die Anfangsprozesse von Krebswucherungen eingreifen und schlechte Bedingungen für das Wachstum von Tumoren erzeugen. Darüberhinaus wirken die Glukosinolate antibiotisch und bilden eine wirkungsvolle Ergänzung zum Vitamin C, wovon der Wirsing recht ergiebige Mengen enthält. Weiterhin wird Wirsing als therapieunterstützend und präventiv bei folgenden Erkrankungen empfohlen: Abwehrschwäche, Angina pectoris, Arteriosklerose, Durchblutungsstörungen, grippalen Infekten, Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes (vielleicht hilft es ja schon, ein passendes Wirsingblatt als Einlage zu tragen), Herzinfarkt, Osteoporose und bei Schnupfen.
Aber auch äußerlich kann Wirsing Anwendung finden. Bei stillenden Müttern mit Brustdrüsenentzündungen eignet er sich hervorragend als Brustauflage, wirkt entzündungshemmend und kühlend - wobei die Wölbung der Blätter dieser Anwendung sehr entgegenkommt. Auch bei schmerzenden, rheumatischen oder überlasteten Gelenken wirkt er schmerzlindernd und mildert Entzündungen bei regelmäßiger Anwendung recht gut ab.
Aus Spaß und zur Auflockerung im praxisnahen Unterricht habe ich gern selbst ein Wirsingblatt als Kopfbedeckung aufgesetzt (ich weiß; mit Essen spielt man nicht) und festgestellt, wie angenehm kühlend und erfrischend die Wirkung ist. Im Selbsttest wandte ich diese Methode an heißen Tagen und auch bei Kopfschmerzen an, und konnte die wohltuende Wirkung selbst feststellen. Und in gewisser Weise findet sich hier schon eine Analogie, eine Signatur in der Form und Struktur des Blattes und des Kopfes auf den eigenen Kopf.
Die blasige Struktur des Wirsings erinnert schon sehr stark an das Erscheinungsbild des menschlichen Gehirns, seine auf den mittleren Strunk hin zulaufenden Blattadern sehr deutlich an die Lunge mit ihren Bläschen dazwischen, aber auch an Drüsengewebe - obwohl diese fraktale Geometrie ja überall in der Natur und in organischem Gewebe zu finden ist.
Nun zur astrologischen und vielleicht die genannten Wirkspektren ergänzenden Signaturen.
Hier möchte ich dem Wirsing und alle weiteren Kohlsorten vornehmlich den Signaturen des Mondes und der Venus zuordnen.
Seine Vorliebe für gleichmäßig feuchte und der Hitze der Sonne nicht all zu sehr ausgelieferte Standorte sowie seine saftige und kühlende Wirkung zeigen deutlich die Signatur des Mondes. Mondpflanzen erkennt man an dicken saftigen Blättern, einem wässrigen bis süßen Geschmack, sie sind reich an Wasser- und Schleimstoffen, tragen weissliche Blüten, lieben feuchte Standorte auf Wiesen oder am Wasser, haben geschmeidige Blätter. Die positive Wirkung typischer Mondpflanzen erstreckt sich von Rheuma über Entzündungen und fieberhafte Infekte hinweg. Auch eine die Fruchtbarkeit steigernde Wirkung haben lunare Pflanzen. Und Wirsing wird tatsächlich neben seiner Eigenschaft als Hautstraffer, Verjünger (Kohlgemüse enthalten viel Biotin, das als Schönheitsvitamin genannt wird) und auch als Fruchtbarkeitshilfe empfohlen.
Gern wird der Mond als Spiegel der Sonne betrachtet und steht für das Unbewusste und die Fähigkeit zur Reflexion. Für einen guten Schlaf oder um psychosomatische Beschwerden zu behandeln, sind Mondpflanzen unentbehrlich. Wirsing hat einen sehr hohen Folsäure-Anteil, dessen Hauptaufgabe im Nervensystem liegt. Folsäuremangel wird schon lange als Mitauslöser für psychische Erkrankungen diskutiert.
Ob scheinbar oder offensichtlich - die Empfehlungen aus der Ernährungswissenschaft und die Wirkspektren des Mondes treffen beim Wirsing sehr gut überein.
Auch die Wirkung der Venus, der schaumgeborenen Göttin der Liebe, bezieht sich auf eine aphrodisierende und die Lust und Lebensfreude steigernde Wirkung. Ihre Pflanzenvertreter offenbaren sich durch harmonische und weiche Strukturen und Blätter, weiße Blüten, einen leicht süßlichen Geschmack und angenehmen Geruch. Bei dieser Betrachtung soll man immer vom Rohzustand einer Pflanze ausgehen und nicht daran denken, wie gerade Nahrungspflanzen nach Hitzeeinwirkung schmecken und riechen können.
Venuspflanzen stehen für Ausgleich, Homöostase, Regelmechanismen, Substanzbildung, Mütterlichkeit und die Verbindung von Geist und Materie. Beziehen wir das auf die o.g. Krankheiten, ergibt sich doch allein durch die ausgleichende Wirkung des Wirsings und seine auf den Organsimus gerichtete Wiederfindung der natürlichen Balance ein stimmiges Bild. Doch grundsätzlich wirken alle Nahrungspflanzen - ganz besonders die grünen und blattartigen - in dieser Weise.
Nun möchte ich doch noch einige Hinweise zum Umgang und zur Verarbeitung von Wirsing hinterlassen. Grundsätzlich schmeckt Wirsing roh sehr gut (wie auch Rosenkohl, Grünkohl, Weißkohl, Broccoli und Blumenkohl) und ist biologisch betrachtet in dieser Form sehr viel wertvoller. Beim Wirsing sollten die einzelnen Blätter vor dem Verzehr gründlich gewaschen werden, denn in den Vertiefungen finden sich oft Insekteneier, kleine Schnecken, Würmer, Nester von Spinnen und Erdreste. (übrigens decken reine Pflanzenfresser auf diese Weise ihren Vitamin B12-Bedarf - indem sie ihr Essen einfach nicht waschen und alles Anhaftende mitessen. Vielleicht nachdankenswert).
Bei Wirsing sollte man nicht von der Größe der Köpfe ausgehen, sondern vielmehr von deren Festigkeit und welkt bei normalen Lagertemperaturen recht schnell. Daher ist es besser, ihn im Kühlschrank zu lagern oder in einem kühlen Keller bei guter Durchlüftung.
Ich dünste vom Wirsing gern den grob geschnittenen inneren Teil des Kopfes sowie die Strünke der äußeren Blätter und gebe kurz vor dem Ende der Garzeit die tiefgrünen Hüllblätter in feine Streifen geschnitten hinzu. So erhält das Gemüse eine kräftige Farbe, Volumen, Biss, einen intensiveren Geschmack und wirkt sättigender. Von der Machart des Rahmwirsings, wie er in Teilen Bayerns zubereitet wird, halte ich nicht viel. Oft wird ein pürierter grüngrauer Pamps serviert, der derart lang gegart wurde, dass die Präsenz der Senföle schon von Weitem zu riechen sind. Wenn es denn ein Rahmwirsing sein soll, dann kann man ihn wenigstens mit dem Messer fein hacken oder, die Blätter zuvor blanchiert, durch die grobe Scheibe des Fleischwolfes drehen, um eine einigermaßen ansehnliche Struktur zu erhalten. Die Garzeit sollte dennoch beachtet werden.
Um der blähenden Wirkung von Wirsing ein wenig zu entgegnen, empfiehlt sich die Beigabe von Küchenkräutern wie Salbei und Thymian. Auch Fenchel- und Anissamen harmonieren sehr gut, wenn man wohlbedacht dosiert. Ich selbst verwende hierzu gern Kümmel- und Koriandersamen. Ein abschließender Verfeiner ist und bleibt für mich beim Wirsing Muskat, welcher erst zum Garende zugefügt werden sollte. Auch grob gehackte Blattpetersilie (inklusive der Stiele) darf zum Schluss reichlich untergehoben werden - vielleicht in Begleitung von etwas Fenchelgrün.
Zum Kohl äußert sich Hildegard von Bingen, von deren Sichtweisen ich sehr viel halte, in einer eher abschätzigen Weise: „Die Kohlarten sind von feuchter Natur und ihr Saft ist eher unnütz und in den Menschen werden Krankheiten von ihnen erzeugt und schwache Eingeweide werden verletzt.“
Ich weiß nicht, was sie hatte…
Malerisch reizen mich Wirsing und Grünkohl durchaus, doch habe vor ich der Illustration der gesamten Pflanze noch zu viel Respekt. Auch der Ausschnitt vom Querschnitt dieser Köpfe als großformatiges Ölgemälde schwebt mir vor, doch dazu braucht es Zeit…
©Kay Weber